
Nach Susan Sontag ist das „Schießen“ eines Fotos ein gewaltvoller Akt: Es fixiert einen Ausschnitt der Welt, macht ihn dauerhaft verfügbar und ist stets in bestehende Machtverhältnisse und Ideologien eingebettet. Seit über einem Jahrzehnt hat sich diese Praxis auch in Videospiele verlagert, deren häufig hyperrealistische Welten eine eigene Form von Authentizität beanspruchen. Schon dem Namen nach sieht sich die „virtuelle Fotografie“ in der Tradition eines Mediums. Das wirft die Frage auf, ob es sich hierbei um eine Fortsetzung oder gar um eine neue Evolutionsstufe der analogen und digitalen Fotografie handelt – und ob die von Sontag beschriebene metaphorische Gewalt auch in virtuelle Räume getragen wird.
Der Vortrag bietet einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung und Ästhetik der virtuellen Fotografie und grenzt sie von anderen Formen der Bildschirmfotografie ab. Am Beispiel des Videospiels Red Dead Redemption 2 zeigt sich, wie insbesondere die virtuelle Landschaftsfotografie die ohnehin oft romantisierten Spielwelten zusätzlich auflädt – mit Gefühlen von Erhabenheit, Sehnsucht nach dem Unendlichen oder einer idealisierten Vergangenheit. Gefühle, die nicht nur kolonialen Entdeckerfantasien und Aneignungsprozessen von Land und Mensch Vorschub leisten, sondern auch Grundlage für patriotische Vorstellungen von Heimat bilden – und so auf reale, gewaltvolle Prozesse verweisen, die seit jeher durch Kameras dokumentiert werden.
Dr. Thomas Spies setzt sich in Forschung, Kunst und Lehre kritisch mit Videospielen und anderen Medien auseinander. Anfang 2025 wurden seine virtuellen Fotografien im Fotoband The Photographer’s Guide to Los Santos publiziert. Er ist Mitherausgeber des Sammelbands Spiel*Kritik: Kritische Perspektiven auf Videospiele im Kapitalismus (2024), Organisator der Veranstaltungsreihe Let’s Play Critical, Mitglied der medienkünstlerischen Formierung K.o.Z. und Associate des pseudo-marxistischen Media-Guerilla-Kollektivs Total Refusal.